Motivation

Seit Theo weg ist, habe ich Abstellkammer, Kühl- und Küchenschrank neu geordnet, Handwerker für längst überfällige Reparaturen engagiert und drei Zimmer neu eingerichtet. Das plötzliche Abarbeiten monatealter ToDo-Listen kam nicht etwa daher, dass mein Liebster mir vorher im Haushalt in den Füßen gewesen wäre oder ich durch seine Abwesenheit an Beschäftigungsmangel leide. Grund für meinen Motivationsschub war vielmehr, dass nacheinander zwei Mitbewohnerinnen bei mir eingezogen sind. Ihnen wollte ich nicht zumuten, beim Versuch, in der hintersten Schrankecke Haferflocken zu finden, einen Hexenschuss zu erleiden. Und wohlfühlen sollten sie sich auch. „Kontextorientierte Motivation“ nennt man das in der Psychologie – der soziale Faktor ist entscheidend.

Theos Motivation hingegen war bisher eher „aufgabenorientiert“. Sein Mindset sei sehr auf Effizienz getrimmt,„Kilometermachen und bloß keine Zeit verlieren“, erzählte er in seinem letzten Newsletter.

Im ersten Monat hat er denn auch meist um die 100 Kilometer am Tag zurückgelegt. Manchmal auch an die 150.
Kein Wunder also, dass ihn die Höhen von Montenegro in ein psychisches Tief führten: ein plötzlicher Wintereinbruch bescherte ihm rote Nase und nasse Füße. Er musste abbrechen und schaffte daher an zwei Tagen hintereinander nur jeweils 40 Kilometer. Das „nur“ würde mir normalerweise gar nicht in die Tasten kommen, zumal Theo an dem einen Tag auch noch über 1000 Höhenmeter schrubbte. Jedoch, gemessen an den 500 Kilometern, die er sich pro Woche vorgenommen hat, ließ ihn das Schneedesaster hinter sein eigenes Soll zurückfallen.

„Das war der härteste Abschnitt meiner bisherigen Strecke. Hat mich viel Kopfarbeit gekostet, hier auf der Höhe zu kapitulieren. Ich hätte müssen nur noch abfahren. Mit durchgefrorenen Füßen und nicht mehr aufhörendem Schneeregen war das aber unmöglich.“, schrieb er mir hinterher.
Während Theo an seiner gefühlten Niederlage knabberte, traf er am Morgen von Tagesetappe 37, gerade zur rechten Zeit, auf ein „Radfahrer-Paar“ aus Barcelona. Er ist seit 2014 mit dem Fahrrad in der Weltgeschichte unterwegs, sie arbeitet zwischendurch zu Hause und begleitet ihn dann abschnittsweise. Auch davor und danach hatte Theo interessante Begegnungen: der 91jährigen Pavel, mit dem er selbst produzierten Wein getrunken und sich mit Händen und Füßen unterhalten hat; Drago, ein Montenegriner, der 51 Jahre in Deutschland gearbeitet hatte: „Orthodoxer Christ, ehemaliger Betriebsratsvorsitzender und Vertreter der Jugos im Stadtrat“; Regi, 24, den Theo so sympathisch findet, dass er ihn zu uns nach Hause eingeladen hat…

Doch erst Gleichgesinnte zu treffen, die ähnliche Herausforderungen kennen, mit denen er sich austauschen kann, lässt Theos Motivation wieder steigen. Zumal sie gemeinsam dann noch einen radfahrenden Litauer treffen. Zu viert feiern sie den letzten, sagenhaften Ausblick über Montenegro auf dem Berg Vidikovac Stegvaš und überqueren kurz darauf die albanische Grenze. Am nächsten Tag schafft Theo 163 Kilometer. Ob Aufgabenlisten oder Laufradpisten – der Kontext motiviert.

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