Bildungsreise vom Wohnzimmer aus
Letzte Woche hat Theo mit seinem Fahrrad die Grenze hinein in einen blinden Fleck überquert.
Mit Verlassen Italiens und seiner Fahrt über Slowenien nach Kroatien ist er in Gebiet eingetaucht, das zuvor allenfalls an der Peripherie meines Gesichtsfeldes existierte. Ich kann mich irren, doch habe ich den Eindruck, dass es nicht nur mir so geht: unser Blick auf das Europa jenseits der östlichen Linie von Deutschland-Österreich-Italien, war bis vor kurzem, von Unwissenheit (im besten Fall) und Stereotypen (im schlimmsten Fall) geprägt.
Seit Theo, vor etwa einem Jahr, mit seinen Reisevorbereitungen begonnen hatte, hängt in unserem Flur eine große Landkarte auf der seine geplante Route eingezeichnet ist. Ich laufe jeden Tag x Mal daran vorbei. Trotzdem habe ich nach Russlands Angriff auf die Ukraine Tage gebraucht, zu realisieren, dass diese nicht „irgendwo im Osten“ ist, sondern von unserer Hauptstadt aus gesehen das übernächste Land. Vielleicht ist diese ausgeprägte geographische Ignoranz eine individuelle Besonderheit. Ich werde jedoch den Eindruck nicht los, dass auch die europäische Öffentlichkeit diesen zweitgrößten Staat Europas erst jetzt wahrnimmt – seit er gezwungenermaßen begonnen hat, an „unserer“ Grenze, Freiheit und Demokratie zu verteidigen.
Letzte Woche habe ich begonnen, mich intensiver mit der Region Osteuropa zu befassen. Obwohl ich für die Europäische Union brenne, hätte ich nicht sicher benennen können, welche Gebiete im Osten bereits zur EU gehören. Zwar war ich vor 20 Jahren zum Schüleraustausch in Bulgarien und habe einige Zeit später zwei Semester in Istanbul studiert. Aber alles was zwischen diesen beiden Ländern und Deutschland lag, damit hatte ich nie zu tun. Nicht, weil ich mich aktiv nicht dafür interessiert hätte. Vielmehr war dieser Landstrich seit ich – politisch, geographisch, historisch – denken kann, ein Quell der Verwirrung. Das merke ich jetzt, wo ich mich damit auseinandersetze. Von der Berliner Mauer hörte ich zum ersten Mal in den Tagen als sie fiel. Da war ich sieben. Ich erinnere mich an das Gefühl des Staunens. Eine Mauer und dahinter ein Land, das auch Deutschland war? Wenig später löste sich Jugoslawien auf, dann die Sowjetunion, schließlich die Tschechoslowakei. Von der Existenz dieser Länder, erfuhr ich, genau wie von der DDR: während ihres Verschwindens.
Und das ist ja nur die erste Schicht. So vieles lässt sich da entdecken, geschichtlich, politisch, geographisch, kulturell und psychologisch: Das Kosovo, dessen Status noch immer umstritten ist. Der winzige Zugang Bosnien-Herzegowinas zum Meer, in Mitten von kroatischem Gebiet. Die zahlreichen Ethnien, nicht nur, auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens. Prachtvolle Städte wie Prag, Budapest und – noch – Odessa. Offenen Wunden, die bis heute nachwirken – aus den Kämpfen, Kriegen, Progromen, Massakern, Genoziden, in den letzten 100 Jahren und davor. Das östliche Europa war Hauptschauplatz der Shoah. Dort haben die Nationalsozialisten die überwiegende Mehrheit der europäischen Juden ermordet. Und mit ihnen eine reichhaltige Kultur für immer ausgelöscht. Dann sind da noch die, fast märchenhaft anmutenden, Namen Böhmen und Mähren, Schlesien und Siebenbürgen, die uns aus dem kollektiven Gedächtnis heraus bisweilen streifen, ein Hauch der Vergangenheit, eine untergegangene Welt, ein Komplex aus Schuld und Verlust.
In einem Essay zur Ukraine aus dem Jahr 2007 schreibt die Autorin, Oksana Sabuschko, über die Lebendigkeit dieser noch jungen Demokratie, die Vielfalt und friedliche Koexistenz verschiedener Sprachen und Kulturen. Gleichzeitig bezeichnet sie die Ukraine als „zweihundertjähriger Keller Europas“. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, aus Europa einerseits und Russland andererseits hineingetragen, hätten in dem Land stets eine besondere Grausamkeit entfaltet. Schließlich ruft sie dazu auf, gemeinsam „Licht in die finsteren Kellerecken Europas zu bringen“. Nur dann, wenn es sich mit seinen „Leichen im Keller“ beschäftigt, habe Europa eine Chance weiter Einfluss zu üben.
Wenn also mein Partner, Theo, nun mit dem Rad einen kleinen Teil Osteuropas erkundet, erhoffe ich mir davon, für mich persönlich, die Möglichkeit, ein wenig Licht auf diesen Flecken Erde zu werfen, ihn aus dem Schatten heraus in mein Blickwelt zu rücken. Es ist eine Art Bildungsreise vom Wohnzimmer aus. Je mehr dabei mitmachen, desto heller wird es.
Zum Weiterlesen:
Bundeszentrale für politische Bildung:
- Ganzenmüller, Jörg, Erinnerung und Gedenken in Osteuropa, 24.11.2017, Vortrag, Fachtagung: Im Schatten von Auschwitz…, https://www.bpb.de/themen/holocaust/im-schatten-von-auschwitz-2017/260033/erinnerung-und-gedenken-in-osteuropa/
- Müller, Dietmar, Der Balkan und Europa, 13.1.2022, https://www.bpb.de/themen/europa/suedosteuropa/322595/der-balkan-und-europa/
- Sabuschko, Oksana, Welcome to Ukraine – Essay, 12.02.2007, in: APuZ, Aus Politik und Zeitgeschichte, Ukraine und Weißrussland, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30634/welcome-to-ukraine-essay/
- Focus Online, Europa-Karte im Zeitraffer, So verschoben sich Europas Grenzen im Lauf der Jahrhunderte, https://www.focus.de/wissen/videos/gigantischer-zeitraffer-europas-grenzen-im-lauf-der-jahrhunderte_id_3227526.html