Wie es dazu kam, dass mein Freund beschloss, mit dem Fahrrad nach Vietnam zu fahren?
„Wenn wir nicht zusammen wären, würde ich eine Weltreise machen.“ Das sind nicht unbedingt die Worte, die man von seinem Partner nach bald 10 Jahren Beziehung hören möchte.
Wir saßen am Küchentisch, unterhielten uns über das Leben, wie wir es führen möchten und unsere Ziele. Es stellte sich raus, ich hatte welche. Er nicht.
Es war Anfang 2021. Noch immer Kurzarbeit in der Veranstaltungsbranche, wo er vor der Pandemie gerade begonnen hatte, mit ein paar spannenden Projekten Fuß zu fassen. Diese Projekte waren im Corona-Sumpf verschwunden und eine Alternative nicht in Sicht.
Aber hey, möchten wir nicht alle manchmal am Liebsten aus allem ausbrechen? Und ist „Weltreise“ nicht die Standardantwort, die 99% der Bundesbürger geben, auf Fragen wie „Was würdest du tun, wenn du – nur noch ein Jahr zu leben hättest/ im Lotto gewinnen würdest/ Single wärst?“ Kein Grund zur Panik.
Und tendieren Männer Anfang 40 nicht ohnehin ein wenig zu radikalen Entscheidungen? Ist es nicht die gute Pflicht ihrer Partnerin, liebevoll, verständnisvoll und beharrlich einen Ausgleich zu schaffen? Die Stimme der Vernunft zu sein?
Ein paar Wochen später, er kommt aus seiner Höhle [Bezeichnung für ein Zimmer in unserer Wohnung, in dem der Mann sich mit Hilfe technischer Errungenschaften ein eigenes Reich geschaffen hat – Anmerkung der Verfasserin]: „Ich habe gerade nochmal so eine YouTube-Doku geschaut. Am Liebsten würde ich meine Wohnung [sprich: seine Altersvorsorge – Anmerkung der Verfasserin] verkaufen und losfahren.“
Ich bin mir nicht mehr sicher, was ich darauf erwidert habe. Vermutlich etwas verständnisvoll Vernünftiges. Aber am nächsten Morgen, das weiß ich noch sehr genau, stand ich unter der Dusche und in meinem Kopf hat sich ein Bild zusammengefügt: Er, wie er mit dem Fahrrad losfährt, Richtung Australien. Vielleicht müsste er ja nicht gerade seine Wohnung verkaufen. Ein Fahrrad ist ja ein vergleichsweise günstiges Fortbewegungsmittel.
Ich, wie ich einen Teil unserer Wohnung untervermiete, um Geld zu sparen, am besten an eine spanische Studentin, um mein Spanisch aufzupolieren. Ich, wie ich zwar meine beruflichen Ziele weiterverfolge, aber gleichzeitig, das tue, was ich immer tun wollte: reisen.
Nun ist es nicht so, dass ich nie gereist wäre. Ich bin alleine gereist, wir sind zusammen gereist. Wir waren in Marrakesch und Istanbul und zum Paddeln in der Ardèche. Im Januar 2020 war ich gerade noch drei Wochen in Chile. Er hat mich nicht aufgehalten, er hat es nicht in Frage gestellt (er ist auch nicht mitgekommen, aber das ist eine andere Geschichte).
Aber dieses „Reisen als Lebensgefühl“-Reisen, da bin ich nie hingekommen. Wegen der Beziehung, wegen der Arbeit, wegen der Finanzen.
Wäre er jetzt unterwegs, so mein Gefühl, müsste ich ihn ja besuchen. Es hätte Priorität, für die Beziehung. Arbeit und Finanzen müssten sich eben anpassen. Irgendwie.
Als ich im Bad fertig war, legte ich ihm meine Gedanken dar. Er sah mich an, als wollte ich ihn in eine Falle locken. „Du hättest nichts dagegen?“
Die nächsten Wochen blieb er in Habacht-Stellung. Ich bin manchmal ein wenig impulsiv und er rechnete wohl damit, dass ich, wenn der Gedanke mal gesackt wäre, emotional nicht mehr so dahinter wäre. Ich kaufte einen Globus als Zeichen meiner Gewissheit.
Das ist jetzt ein gutes Jahr her. Wenn es nach mir gegangen wäre, er hätte seine Reise innerhalb von drei Monaten geplant und wäre jetzt bald wieder zurück. Ich hasse warten. Doch er ist zum Glück nicht so impulsiv wie ich. Er ist die Sache wie eines seiner anderen Projekte angegangen: Es gibt mittlerweile eine Homepage. Sponsoren. Einen guten Zweck, den er bewirbt. Ein Zelt, dass weniger wiegt als ein Brot. Und jede Menge anderer ultraleichter, mega-kleiner Ausrüstungsgegenstände, die er sich von seiner Altersvorsorge gekauft hat. Er hat alle Impfungen, die man sich legal geben lassen kann und es gibt einen Cloudordner mit Notfallplänen für den Fall, dass er ein Bein bricht/ entführt wird/ im Iran ins Gefängnis kommt (alle drei beginnen mit den Worten „Ruhe bewahren“ – pff!)
Und ich habe eine Mitbewohnerin gefunden. Sie ist nicht aus Spanien, sondern aus Aserbaidschan. Sie wird mir helfen, mein Türkisch aufzupolieren.